Dienstag, 6. März 2007

Ungerechte Authenzität...

Authenzität wird immer wieder hochgehalten. Die Feuilletons sind geradezu außer sich vor Freude, wenn Neil Young mal wieder ein authentisches Album einspielt, ohne dass es überproduziert ist, denn das, so der Feuilletonist, unterscheidet ja in der Regel den seriösen vom unseriösen Künstler.

Ich habe in den letzten Tagen viel Authenzität erlebt. Zuletzt gestern, kurz vor dem Ladenschluss, an der Supermarktkasse. Keine Ahnung, um wen es ging, als die junge Dame hinter mir zu ihrer Freundin sagte "Er hat abgenommen...und der ist voll schlau geworden. Alter, der macht jetzt 'ne Ausbildung! Zum Einzelhandelskaufmann", woraufhin ihre Freundin, die sich interessanterweise nichts daraus machte, dass sie in der maskulinen Form ("Alter") angesprochen wurde: "Was? Der macht Ausbildung?".

Ich fühlte mich spontan an den Film "Go! Life Starts at 3 a.m." erinnert. Die Protagonistin sitzt an einer beliebigen amerikanischen Supermarktkasse und füllt die Einkäufe ihrer Kundin in eine Tüte. Als sie die Flasche mit dem Spülmittel in die Tüte stellt, in der auch die Lebensmittel sind, wird sie von der Kundin, einer offensichtlich im Leben gescheiterten jungen Frau, vielleicht Anfang Zwanzig, mit eigenem Kind auf dem Arm, harsch angegangen. Lebens- und Spülmittel gehörten nicht zusammen. Als die Protagonistin die Augen verdreht und die Waren umsortiert wird sie herablassend von der Kundin angegangen. Sie brauche sich gar nichts einzubilden, die Kundin habe selbst einmal an der Kasse gearbeitet. "Wow, Sie haben es weit gebracht", entgegnet die Protagonistin. Daran musste ich gestern auch denken, als von besagtem Einzelhandelskaufmann die Rede war. Wow. Der ist schlau. Aber ich schweife ab.

Authenzität wurde gestern im Supermarkt gelebt. Aber hier hätten die Feuilletonisten wohl Bedenken, in Fällen wie jenem gestern würde über "Prekariat" geschrieben, über "ungleiche Bildungschancen", über "Restschulen", über "Integrationsfähigkeit". Dabei waren die beiden Mädels nur authentisch.

Allerdings wird die Sache mit der Authenzität in der Tat ein wenig weit getrieben. Kürzlich war ich in einem amerikanischen Restaurant, nicht McDonald's oder so versteht sich.

Schon als ich den Tisch dort bestellte wurde mir anders: "This is Andreas [deutsch ausgesprochen], how can I help you" wurde ich am Telefon begrüßt. Im Laden selbst ging's dann entsprechend weiter. Der Kellner war der deutschen Sprache nur äußerst bedingt mächtig, fühlte sich im Englischen sichtlich wohler und genau dies lag wohl auch im Sinne des Restaurantbetreibers. Authenzität! ist auch hier das Stichwort.

Aber, frage ich mich, wozu soll das führen? Was, wenn plötzlich der Dönermann um die Ecke ebenfalls authentisch sein möchte? Nicht, dass ich da unwillig wäre - aber soll ich da türkisch lernen? Soll ich für das Thai-Restaurant Thai, für die Baguetterie französisch und für meinen Pizzabringdienst mit "echten italienischen Spezialitäten"...indisch lernen?

Ich frage mich: Warum wird der Engländer oder Amerikaner, der hier lebt und kaum deutsch spricht, als authentisch und damit großartig empfunden, der Türke, Iraker, oder Afghane jedoch als Problemfall und integrationsunwillig gesehen? Das ist freilich ungerecht - aber wahrscheinlich geht es bei Authenzität auch nicht um Gerechtigkeit. Wie schade, eigentlich.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Du triffst auch Nadeln im Heuhaufen mitm Hammer uffn Kopp!...Genialer Gedanke...kann man nur unterstützen...!

Brauchtest du wieder Cola? ;)
Gruss